Die deutsche Wirtschaft strauchelt. Für das Jahr 2024 prognostizieren die internationalen Organisationen European Commission (2023), IMF (2024) und OECD (2024) jeweils, dass Deutschland im Vergleich zu anderen entwickelten Volkswirtschaften eines der Schlusslichter beim Wirtschaftswachstum sein wird. Die Ergebnisse des Economic Experts Survey (EES) aus dem Herbst 2023 zeigen, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland in den vergangenen zehn Jahren substanziell an Attraktivität verloren hat. Die Politik ist alarmiert. Das Präsidium der FDP verabschiedete am 22.04.2024 ein Positionspapier zur Beschleunigung der Wirtschaftswende. Im 46. Ökonomenpanel von ifo und FAZ nehmen wir diese Situation zum Anlass und befragen die deutschen VWL-Professorinnen und -Professoren, in welchen Bereichen Deutschland schwächelt und welche Reformen notwendig sind. Die Umfrage, an der 180 Personen teilnahmen, fand vom 16. April bis zum 23. April 2024 statt.
Wirtschaftsstandort Deutschland erhält Note 3,4
Die Professorinnen und Professoren an deutschen Universitäten bewerten den Wirtschaftsstandort Deutschland im internationalen Vergleich durchschnittlich mit der Schulnote 3,4. Eine positive Wahrnehmung des Wirtschaftsstandorts drücken 22% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus. Davon haben 2% die Note „sehr gut“ und 20% die Note „gut“ vergeben. Sie betonen die gute Ausbildung der Arbeitskräfte, den starken Forschungsstandort Deutschland und die weiterhin vorhandene Innovationskraft der Unternehmen. Zudem verweisen sie auf stabile politische Verhältnisse, Rechtssicherheit und institutionelle Rahmenbedingungen als Gründe für eine positive Bewertung des Wirtschaftsstandorts Deutschland.
Mehr als die Hälfte der Ökonominnen und Ökonomen stellt dagegen ein mittelmäßiges Zeugnis aus. 38% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer vergeben die Note „befriedigend“ und 17% vergeben die Note „ausreichend“ für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Sie sehen auch Bildung und Institutionen als Stärken. Jedoch wird in dieser Gruppe vielfach die Sorge geäußert, dass die Substanz zunehmend erodiert und der Standort Deutschland an Attraktivität verliert. Insbesondere die umfassende Bürokratie, fehlende öffentliche Investitionen, der Mangel an Fachkräften, hohe Energiepreise und mangelhafte Digitalisierung trüben die Bewertung.
Es vergeben 20% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Note „mangelhaft“ und 3% die Note „ungenügend“. Für diese Gruppe gibt es kaum Positives. Stattdessen nimmt sie den Wirtschaftsstandort Deutschland als eine Bündelung von wirtschaftshemmenden Faktoren wie hoher Bürokratie, hohen Steuern, hohen Energiekosten sowie geringen Investitionen, schleppender Digitalisierung und sich zuspitzenden demografischen Herausforderungen wahr. Die Ökonominnen und Ökonomen führen auch die Wirtschaftspolitik der Ampel-Regierung als eine Belastung für den Wirtschaftsstandort Deutschland an. Insgesamt gibt es bestimmte Faktoren, die übergreifend positiv bzw. negativ für den Wirtschaftsstandort Deutschland gesehen werden. Dabei ist die individuelle Bewertung des Wirtschaftsstandortes davon abhängig, welche Faktoren als maßgeblich betrachtet werden. Das kann im Folgenden detaillierter betrachtet werden.
Bürokratie, Energie und Rohstoffe sowie Digitalisierung als die größten Schwächen
Für den Wirtschaftsstandort Deutschland werden lediglich vier von den 13 abgefragten Standortmerkmalen häufiger als Stärke statt als Schwäche im internationalen Vergleich bewertet. Die politischen Institutionen werden von 67% der VWL-Professorinnen und -Professoren als eine Stärke gesehen und belegen damit den ersten Platz. Dahinter folgen Bildung und Humankapital (53%), Sicherheit und geopolitische Risiken (43%) sowie Zugang zu Finanzierung (36%). Diese vier Merkmale werden jeweils von 10 bis 15% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer als Schwäche gesehen – der Rest beurteilt sie neutral. Das Lohnniveau wird insgesamt neutral bewertet.
Für alle anderen Standortmerkmale ist der Anteil derjenigen, der die Merkmale als Schwäche für den Wirtschaftsstandort bewertet, mindestens doppelt so groß wie der Anteil derjenigen, der in dem Merkmal eine Stärke erkennt. Kritisch wird die Verfügbarkeit von Arbeits- und Fachkräften sowie die Konstanz der Wirtschaftspolitik gesehen, die jeweils von 38% der Ökonominnen und Ökonomen als Schwäche bewertet werden. Gleiches gilt für Infrastruktur und Steuern, die von knapp der Hälfte als Schwäche gesehen werden. Besorgniserregende Werte erzielen die letzten vier Merkmale. Die Lohnnebenkosten sehen 60% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer als eine Schwäche für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Bei der Digitalisierung sind es 67% sowie bei Energie und Rohstoffen 74%. Mit Blick auf Regulierung und Bürokratie sagen sogar 87% der Ökonominnen und Ökonomen, dass diese den Wirtschaftsstandort schwächen. Insgesamt wurde 841-mal ein Merkmal als Schwäche bewertet. Dem gegenüber stehen nur 412 Nennungen eines Merkmals als Stärke.
Detailblick – Stärken und Schwächen nach Bewertung des Wirtschaftsstandortes
Unabhängig von der Bewertung des Wirtschaftsstandortes Deutschland werden jeweils die gleichen drei Merkmale am häufigsten als Stärken genannt. Von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die den Wirtschaftsstandort Deutschland mit den Noten „sehr gut“ und „gut“ bewertet haben, geben 94% politische Institutionen, 88% Bildung und Humankapital sowie 53% Sicherheit und geopolitische Risiken als Stärke an. Die Häufigkeit der Nennungen sind bei jenen Ökonominnen und Ökonomen, die den Wirtschaftsstandort Deutschland kritischer bewertet haben, zwar deutlich weniger, aber die Reihenfolge der drei stärksten Merkmale bleibt gleich. Von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit den Noten „befriedigend“ und „ausreichend“ geben 65% an, dass sie die politischen Institutionen als Stärke sehen, und bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit den Noten „mangelhaft“ und ungenügend“ sind es immerhin noch 44%.
Bei den drei größten Schwächen zeigt sich ein sehr ähnliches Bild. Jedoch sind hier die Unterschiede zwischen den Anteilen der Nennungen deutlich weniger ausgeprägt als sie es bei den Stärken waren. Während also viele Ökonominnen und Ökonomen mit einer kritischen Wahrnehmung kaum eine Stärke des Wirtschaftsstandortes Deutschland benennen, herrscht zumindest bei den Schwächen – unabhängig von der übergreifenden Bewertung – Einigkeit. Von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit den Noten „mangelhaft“ und „ungenügend“ nennen 94% Regulierung und Bürokratie, 92% Energie und Rohstoffe sowie 86% Digitalisierung als Schwäche. Auch bei den Ökonominnen und Ökonomen mit den Noten „sehr gut“ und „gut“ sowie „befriedigend“ und „ausreichend“ werden Regulierung und Bürokratie am häufigsten mit 68% bzw. 89% als Schwächen des Wirtschaftsstandortes Deutschland genannt. Ein Unterschied besteht darin, dass für die Noten „sehr gut“ und „gut“ das Merkmal Lohnnebenkosten mit 47% auf Platz 3 der am häufigsten genannten Schwächen liegt und in dieser Gruppe Digitalisierung mit 44% knapp dahinter folgt.
Mit Blick auf Regulierung und Bürokratie schlagen die VWL-Professorinnen und -Professoren vor, Genehmigungen für Bau und Investitionen sowie Ausschreibungen zu beschleunigen. Sie fordern, neue und bestehende Gesetze stärker auf ihre bürokratischen Kosten zu prüfen und wünschen sich eine Verwaltung, die eine Service-Mentalität entwickelt. Bezüglich der Steuern in Deutschland geben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an, dass der Standort grundsätzlich von Steuersenkungen und Vereinfachungen im Steuerrecht profitieren würde. Angesichts der demografischen Herausforderung sowie der zunehmenden Belastung des Staatshaushaltes durch Sozialausgaben regen sie zudem an, das Renteneintrittsalter zu erhöhen und die Grenzabgaben so anzupassen, dass eine Arbeitszeitverkürzung unattraktiver und stattdessen ein höherer Arbeitseinsatz attraktiver wird. Für die attestierte Schwäche im Feld Energie und Rohstoffe gibt es keine einheitlichen Reformvorschläge. Die einen glauben, dass der Wirtschaftsstandort von einer beschleunigten Energiewende profitieren würde und die anderen wünschen sich eine Umkehr oder zumindest eine Verlangsamung der Energiewende. Insgesamt werden mehr marktorientierte und international eingebettete Maßnahmen für die Energiewende empfohlen.