Nächster Halt: Verschiebebahnhof
Union und SPD haben sich auf ein erstes Sondierungspapier geeinigt, unter anderem ist ein Sondervermögen für die Infrastruktur vorgesehen. Doch die Pläne der Parteien zeigen: Die Milliardensummen, die eigentlich für die Infrastruktur gedacht waren, könnten für Rente und Co. umgewidmet werden – ein folgeschwerer Fehler. Das IW ordnet die wichtigsten Punkte des Papiers ein.
Zu den Ergebnissen der Sondierungen sagt IW-Direktor Michael Hüther: „Dass Union und SPD so zügig zu einem Ergebnispapier gekommen sind, ist ein gutes Signal. Das gilt auch für den Mut, fiskalisch neu zu starten. Gleichzeitig wird deutlich, dass es zu Substitutionseffekten kommen kann. Nächster Halt: Verschiebebahnhof. Bund, Länder und Kommunen fahren im Zuge des Sondervermögens Infrastruktur ihre Investitionen in den Kernhaushalten herunter. Dafür geben sie mehr Geld für soziale Zwecke aus, etwa die Rente. Das ist nicht Sinn und Zweck eines Sondervermögens. Additionalität und Ko-Finanzierung müssen zwingend gelten, einen Verschiebebahnhof darf es nicht geben. Hier ist politische Führung gefragt.“
Die Wissenschaftler des IW ordnen das Sondierungspaper wie folgt ein:
Finanzierung
- Verteidigungsausgaben: Verteidigungsausgaben über einem Prozent sollen nicht der Schuldenbremse angerechnet werden. Bisher erreichte die Bundesregierung ein Ausgabenniveau von 1,5 Prozent – hier sollte auch die neue Grenze angesetzt werden.
- Die Mittel aus dem Sondervermögen Bundeswehr müssen zügig abfließen: Ein Planungs- und Beschaffungsbeschleunigungsgesetz für die Bundeswehr ist ein guter Schritt, um die Verteidigungsfähigkeit schnell sicherzustellen. Analog müssen die Projekte des Infrastruktur-Sondervermögens in das Planungs- und Genehmigungsbeschleunigungsgesetz überführt werden, damit das Geld auf die Straße kommt.
- Einsparungen im Rahmen der Haushaltsberatungen: Ein zentrales Wahlversprechen der Union ist, den Haushalt auf Einsparungen zu prüfen. Das muss dringend parallel zu den Investitionen über das Sondervermögen geschehen.
Wirtschaft
- Wettbewerbsfähige Energiekosten / Industriestrompreis: Hier wollen die Sondierer die Stromsteuer und die Netzentgelte senken. Ein guter Schritt, doch die Finanzierung bleibt vollkommen unklar. Auch die Strompreiskompensation soll ausgeweitet werden, was zu begrüßen ist. Erdgas bleibt auf absehbare Zeit ein preissetzender Energieträger in Europa – hier wäre eine klarere Anknüpfung an die EU und den Action Plan for Affordable Energy wünschenswert.
- Leitmärkte für klimaneutrale Produkte: Geht in die richtige Richtung. Die Herausforderung wird aber darin bestehen, dass daraus nicht eine faktisch harte Produktregulierung der Nachfrageseite wird, etwa beim Stahl.
- Strategische Industrien stärken: Viele offene Fragen, etwa inwiefern die Regierung mit Industriepolitik eingreifen will – die Ampel wurde für ihre Subventionen in der Wirtschaftspolitik hart kritisiert, auch von der Union.
- Insgesamt: Die Sondierer bleiben in vielen Punkten sehr unkonkret. Man will die Mitte entlasten, die Digitalisierung vorantreiben und die Unternehmenssteuer reformieren. Doch wann und wie diese Projekte umgesetzt werden sollen, bleibt unerwähnt. Hier und da findet sich Klientelpolitik, etwa bei der Wiedereinführung der Agrar-Diesel-Subvention. Ein großer Wurf sieht anders aus.
Arbeit und Soziales
- Mindestlohn und Stärkung Tarifbindung: Es fehlt ein klares Bekenntnis zur Unabhängigkeit der Mindestlohnkommission. Stattdessen wird sie unter Druck gesetzt, den Mindestlohn möglichst rasch auf 15 Euro je Stunde anzuheben. Damit würden aber viele Tariflöhne obsolet und das Vertrauen in eine verlässliche Mindestlohnanpassung zum Schaden der Tarifautonomie weiter untergraben. Die Stärkung der Tarifbindung ist sinnvoll. Verantwortlich hierfür sind aber vor allem die Tarifvertragsparteien. Ein Tariftreuegesetz wird kaum dazu beitragen, die Tarifbindung zu stärken. Stattdessen werden neuen bürokratische Hürden aufgebaut.
- Sicherheit und Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt: Ein richtiger Schritt ist der Übergang von der täglichen zu einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit. Eine solche Reform war lange überfällig. Durch die weiterhin bestehenden Regeln zu Ruhezeit – elf Stunden am Stück – wird diese Flexibilität jedoch wieder ausgebremst. Längere Arbeitszeiten für Arbeitnehmer attraktiv zu machen, ist ebenfalls richtig. Ob die avisierte Steuerfreiheit für Überstundenzuschläge und Arbeitgeberprämien hier der Weisheit letzter Schluss sind, ist mit einem Fragezeichen zu versehen. Nach wie vor fehlt ein Masterplan, wie mit der Verrentung geburtenstarker Jahrgänge am Arbeitsmarkt umgegangen werden soll. Und es fehlt ein Bekenntnis dazu, dass bestehende und künftige Gesetze, die der Bewältigung dieser Herausforderung entgegenstehen, auf den Prüfstand kommen. Das Land braucht für jedes neue Gesetz einen „Demografie-Check“.
- Rente: Die Sondierer wollen das Rentenniveau sichern. Eine hohe Beschäftigungsquote und angemessene Lohnentwicklung sollen helfen, es zu finanzieren. Bei einem schrumpfendem Arbeitskräftepotenzial ist das schon herausfordernd genug. Aber wenn das Sicherungsniveau möglichst konstant gehalten wird, müssen dazu die Renten mit der Lohnentwicklung steigen. Das geht nicht auf. Das Festhalten an der abschlagfreien Rente nach 45 Jahren begünstigt ein frühzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Einer dringend notwendigen Verlängerung der Lebensarbeitszeit wird explizit eine Abfuhr erteilt. Ein Steuerfreibetrag für freiwillig arbeitende Rentner provoziert vor allem Mitnahmeeffekte. Und die Aufstockung der Mütterrente kostet rund 4,5 Milliarden Euro zusätzlich. Steigende Sozialabgaben hemmen Wachstum – die Ausgaben müssen runter. Denn: Höhere Sozialabgaben bremsen dauerhaft die private Investitionstätigkeit aus, der private Konsum fällt immer weiter zurück. Damit die Wirtschaft wächst, braucht es strikte Ausgabendisziplin in den Sozialversicherungssystemen.
- Fachkräftesicherung: Die bürokratischen Hürden bei der Fachkräftezuwanderung sind zwar genannt, sie erfordern jedoch effektives und schnelles Verwaltungshandeln. Was dringend vermieden werden muss, sind zusätzliche Verwaltungsstellen und ineffiziente Doppelstrukturen.
- Insgesamt: Im Sondierungspapier sind einige Punkte zum Arbeitsmarkt und zur Sozialpolitik aufgeführt. Einiges ist zielführend, vieles vage und manches fehlt.
Die geplanten Änderungen beim Bürgergeld sind sinnvoll, strengere Sanktionen für Arbeitsverweigerer gerechtfertigt. Sie tragen einem Sozialstaatsgedanken Rechnung, wonach diejenigen, die Hilfe benötigen, auch Hilfe erhalten, und gleichzeitig jeder einzelne in der Verantwortung steht, durch Erwerbsarbeit den eigenen Lebensunterhalt zu sichern, wenn er dazu in der Lage ist.
Migration
- Fachkräfteeinwanderung vereinfachen: Es ist richtig, dass die bürokratischen Hürden reduziert werden. Deutschland ist auf qualifizierte Zuwanderung angewiesen – auch um die großen Infrastrukturmaßnahmen effektiv umsetzen zu können.
- Westbalkan-Regelung begrenzen: Warum die Regelung begrenzt werden muss, erschließt sich nicht. Hier scheinen die Sondierer unnötige Symbolpolitik zu betreiben.
Weitere ausgewählte Vorhaben
- Pflege und Gesundheit: Das Papier kündigt außerdem eine große Pflegereform an – wie schon so oft. Und die Gesundheitsversorgung soll für alle gesichert bleiben. Es geht aber längst nicht mehr nur um die Finanzierungsseite: Denn bei schrumpfendem Arbeitskräfteangebot wird sich die medizinische und pflegerische Versorgung nicht länger mit Rezepten sichern lassen, die schon seit Jahrzehnten zu wiederkehrenden Finanzierungsdefiziten führen. Mehr Geld allein droht in höheren Löhnen und Kosten zu verpuffen, es braucht Raum für innovative Versorgungskonzepte.
- Startchancen für Kinder verbessern: Das Startchancenprogramm soll auf Kitas ausgeweitet und Sprachkitas wieder eingeführt werden. Der Ausbau verlässlicher Kitas und von Ganztagsschulen ist ebenfalls vorgesehen. All diese Punkte sind wichtig und müssen dringend umgesetzt werden.