Verbandsanwalt des BFW/Referent Recht und Bautechnik
Nach fast fünf Jahren coronabedingter Pause fand am 12. und 13. Mai 2023 der Deutsche Baugerichtstag (DBGT) wieder als Präsenzveranstaltung traditionell in Hamm statt, und zwar unter großer Beteiligung der Fachleute aus den verschiedenen Bereichen des Baurechts. In insgesamt zwölf Arbeitskreisen wurden, wie es die Regularien des DBGT vorsehen, aktuelle und zukunftsorientierte Themen ausführlich diskutiert und anschließend in Form von Empfehlungen gebracht, über die jeweils in den Arbeitskreisen abgestimmt wurde. Die im Einzelnen dabei erarbeiteten Empfehlungen und das jeweilige Abstimmungsergebnis können hier angesehen werden.
Aus Sicht der Bau- und Bauträgerunternehmen war insbesondere der Arbeitskreis V, der sich unter Beteiligung u. a. der Vertreter des BFW mit dem Thema „Die rechtliche Verbindlichkeit von Normen für die Vertragspartner eines Bauvorhabens“ beschäftigt, von Interesse. Dabei standen – kurz gefasst – die herrschende Praxis der Entstehung von Baunormen und die daraus für die praktische Rechtsanwendung, natürlich auch der Gerichte, zu ziehenden Konsequenzen zur Diskussion.
Ergebnisse/Empfehlungen
Mit jeweils überwältigender Mehrheit – teilweise sogar einstimmig – verabschiedete der Arbeitskreis V nach intensiver Diskussion neun Thesen, die nun – wie es beim Baugerichtstag üblich ist – veröffentlicht und als Empfehlung den zuständigen Institutionen (in erster Linie dem DIN) weitergegeben werden. Irgendwelche Entscheidungskompetenzen hat der Baugerichtstag, der ein rein freiwilliger Zusammenschluss von Baubeteiligten ist, nicht.
Hier eine stichwortartige Auswahl der durchweg umfangreichen und recht kompliziert formulierten Empfehlungen:
- DIN und andere Herausgeber technischer Empfehlungen sollen zukünftig die Einzelheiten des Zustandekommens von Normen nach einheitlichen Vorgaben dokumentieren und dies allgemein zugänglich machen.
- Technische Regeln sollen keine Anforderungen für Komfortstandards mehr beschreiben, sondern lediglich ein Basisniveau.
- Sachverständige sollen nähere Anweisungen für die Bewertung von technischen Regeln im Einzelfall erhalten.
- Technische Empfehlungen und Normen sollen stets das Ergebnis einer im Konsens verabschiedeten Handlungsempfehlung sein. War dies nicht der Fall, so kommen diese technischen Regelungen als anerkannte Regeln der Technik nicht in Betracht und sollen dann auch nicht verbindlich sein.
- Die Herausgeber technischer Empfehlungen (z. B. DIN) soll die Verpflichtung treffen, neben der (Bau-)Sicherheit auch die wirtschaftlichen und ökologischen Folgen der Empfehlung zu prüfen und zu berücksichtigen.
- Es soll gesetzlich festgelegt werden (was schon bisher in der Rechtsprechung anerkannt ist), dass von bauordnungsrechtlichen Vorgaben abgewichen werden kann, wenn nachgewiesen wird, dass die gesetzlichen Schutzziele auch auf andere Weise eingehalten werden können.
- Es soll den Bauvertragsparteien freistehen, Abweichungen von den anerkannten Regeln der Technik zu vereinbaren. Der Gesetzgeber wird aufgefordert die Voraussetzungen für eine abweichende Regelung gesetzlich festzulegen.
- Die Abweichung von einer technischen Regel soll nicht automatisch zu einer Einstufung als Mangel führen. Wer die Beweislast für einen Mangel trägt, soll deshalb nicht nur die Abweichung darstellen, sondern auch beweisen können, dass die abweichende technische Lösung nicht wenigstens gleichwertig ist.
- Die Feststellung, wann eine Norm oder eine andere technische Regelung eine allgemein anerkannte Regel der Technik ist, ist praktisch nicht (mehr) möglich.
- Die in der bisherigen Rechtspraxis angewandte tatsächliche Vermutung, wonach technische Regelungen anerkannte Regeln der Technik sind, soll keine Anwendung mehr finden.
Der volle Wortlaut der Empfehlungen kann hier nachgelesen werden.
Eine Bewertung, welche konkreten Konsequenzen die Umsetzung einzelner oder gar aller dieser Empfehlungen für die Mitgliedsunternehmen haben würde, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich. Tendenziell würden die Sachverständigen in Bauprozessen eine deutlich entscheidendere Rolle einnehmen. Sie dürften sich nicht mehr auf die Feststellung der Einhaltung technischer Regelungen beschränken, sondern wesentlich weitergehende Prüfungen routinemäßig vornehmen. Ob dies als Vorteil für die Branche einzuschätzen ist, darf durchaus bezweifelt werden!